Nachdem die Süddeutsche Zeitung mir das Angebot gemacht hat, meine Fotoserie mit Wolfgang Koeppen zu veröffentlichen, habe ich den Freund aufgesucht, der damals die Rolle des Lesers übernommen und Koeppen zusammen mit mir in seiner Wohnung besucht hat. Wir waren Freunde aus Schulzeiten, inzwischen ist Peter Hoffmann Anästhesist in einem Münchner Krankenhaus. Die Idee der Veröffentlichung gefiel ihm, er war sofort einverstanden. Interessant war für mich, wie wir beide die gleiche Begegnung mit Koeppen in Erinnerung behalten haben.
Das war vor 33 Jahren!
Ja, ich habe mich an einer Filmhochschule beworben und das Thema war, Inszenierung einer Begegnung.
Bist Du genommen worden?
Mit dieser Fotoserie nicht.
Warum?
Das erfährt man nie. Jedenfalls nicht die wirklichen Gründe.
Hat Koeppen damals sofort zugesagt?
Ja. Ich kannte ihn schon, weil ich ihn sechs Jahre vorher schon mal für meine Facharbeit am Gymnasium zu seinem Roman „Das Treibhaus“ befragt hatte.
Hat er sich daran erinnert?
Als ich ihn mit 19 kontaktiert habe, haben ihn wohl meine Träume und hochtrabenden Pläne fürs Leben neugierig gemacht. Vielleicht hat er sich selbst ein bisschen darin wiederentdeckt. Er wollte in den 1920er-Jahren aus der Provinz nach Berlin ans Theater zu Brecht, ich zu Fellini nach Rom.
Damals haben wir beide uns aus den Augen verloren.
Ich bin ein Jahr vor der Fotogeschichte nach Rom gezogen und konnte schon eine erste, kleine Bilanz ziehen.
Wie ist die ausgefallen?
Dass man in Rom wunderbar lernen kann, in Würde zu scheitern. In Rom bekommt man selten das, wonach man sich auf den Weg gemacht hat, aber fast immer etwas anderes und zusätzlich die Gewissheit, dass es besser so ist. Ich weiß nicht, ob ich das damals schon so deutlich formuliert habe. Ich war ja noch mittendrin. Aber Scheitern ist auch einer der roten Fäden durch Koeppens Werk.
Koeppen hatte ja auch einen starken Bezug zur Ewigen Stadt.
Er hat seinen Roman „Tod in Rom“ dort angesiedelt. Im Buch geht es aber auch um die Bosheit, um alte Nazis, die in den 50er-Jahren neue Ränke schmieden, also nicht nur ums schicksalhafte Scheitern als Schatten der menschlichen Existenz schlechthin.
Was hat Koeppen denn so am Scheitern fasziniert?
Sicher sein eigenes. Im Schreiben wie im Leben. Aber uns hat es damals beeindruckt – die purpur-roten Tapeten in seiner Wohnung, das Leben in dieser Höhle voller Bücher und Zeitungsschnipsel, ein Leben völlig ohne festen Tagesablauf. Wir mussten damals um 8 in der Schule sitzen. Da konnte ich mir tausend Mal sagen, so zu leben, das muss höllisch weh tun – ohne Familie, ohne Frau, ohne feste Einnahmen, dazu die fortschreitende Gebrechlichkeit … wir hätten es ihn fragen sollen!
Ich weiß nicht. Er war offen, aber gleichzeitig auch freundlich zurückhaltend. Diskret. Preußisch.
Ja, aber wir waren für ihn anonym, ein bisschen wie Beichtväter. Wie der Fremde im Zug, dem man sein ganzes Leben erzählt, weil man ihn nie wiedersehen wird.
Ganz sicher hat zur Vertraulichkeit Koeppens beigetragen, dass wir kein Mikrofon dabei hatten. Er konnte uns alles sagen ohne dass es Folgen gehabt hätte.
Unbedingt! Ich habe mal beim Autostopp in Italien ein Mitglied der italienischen Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung kennengelernt. Er hat mir unumwunden erzählt, dass seine deutschen Kollegen Baader und Meinhof umgebracht hätten. Als ich ihn gefragt habe, woher er das wüsste, hat er sich mir in seiner Funktion vorgestellt. Dabei hat er gelacht und gesagt: „Du kannst es ruhig weitererzählen – es wird Dir niemand glauben!“
Glaubst Du es denn?
Das weiß ich bis heute nicht. Die Namen der deutschen Innenpolitik, die er genannt hat, waren jedenfalls beeindruckend und in dem Zivilfahrzeug lagen auf dem Rücksitz eine Militäruniform und eine Kelle für Straßenkontrollen.
Was glaubst Du, wie Koeppen auf die Fake-news-Kultur reagiert hätte?
Sicher als Gentleman. Falschnachrichten gab es im Kalten Krieg genauso wie heute, nur hieß das damals noch ganz unaufgeregt Desinformation und jeder wusste, dass man so frei war, nicht alles zu glauben.
Er hat ja auch selbst viel Autobiographisches überhöht und zur Fiktion veredelt.
Seine Figuren sind authentisch und haben eine innere Wahrheit. Von der heutigen „Beweis-Kultur“, die aus dem angelsächsischen Raum zu uns importiert wurde, hätte er wohl nicht viel gehalten.
Für ihn war Wahrheit, das zu erzählen, was die äußere Realität nicht so ohne weiteres preisgibt.
Ich war lange Cutter beim Fernsehen. Alte Kameramänner haben mir voller Stolz erzählt, wie sie früher nach dem Schlusspfiff Tore mit den Fußballspielern nachgestellt und gefilmt haben, die sie im realen Spiel verpasst hatten. In gewisser Hinsicht ist auch diese schelmische Inszenierung eine Art von Realität, eine poetische, die Koeppen gefallen hätte.
Ganz im Sinne Federico Fellinis: „Ich bin ein Lügner, aber ein aufrichtiger“!
Koeppens Roman „Das Treibhaus“ hat die Kritik in der 50er-Jahren vorgeworfen, er verzerre das Bild der deutschen Nachkriegsrealität, obwohl er seine Figuren als erfunden bezeichnet hat. Ken Adam, der deutsche Bühnenbildner vieler Stanley-Kubrick-Filme, hat seinerzeit den absolut geheimen War room der US-Kommandozentrale aus purer Phantasie erschaffen, aber nach dem Film haben ihn hohe Politiker erschrocken angerufen und gefragt, woher er wusste, wie der War Room aussieht.
Kannst Du Dich noch an das Tonband Koeppens erinnern?
Ich habe es für die Fotoserie nicht fotografiert, weil es im Schlafzimmer stand. Das schien mir zu intim. Aber er hat erzählt, wie er nachts in seinen Wachphasen das gerade frisch Geträumte auf Tonband gesprochen hat, dann zwei Stunden geschlafen, dann wieder zwei Stunden gesprochen, bis zum Morgen-Grauen – das in seinem Fall wirklich ein „Grauen“ gewesen sein muss. So hat er seine Nächte verbracht. Tagsüber hat er das Aufgenommene abgehört und niedergeschrieben.
Trotzdem hat er kaum noch etwas veröffentlicht. Er ist unter den großen Schriftstellern vielleicht der Bekannteste für seine Schreibhemmung.
Am Ende seines Lebens hat er gesagt: „Ich lebe in meinem Roman“.
Das klingt nach Joseph Beuys’ „Jeder ist ein Künstler“
Nein, überhaupt nicht. Er konnte das nur sagen, weil er wirklich so gelebt hat, bis zur letzten Konsequenz – die Armut, die Freiheit, auch die innere, gegenüber Erwartungen. Damals hat mich sein Ausspruch sehr beeindruckt: „Ich lebte. Es ging mir schlecht. Ich hatte die Freiheit und die Freiheit zu verhungern. Das ist sehr viel!“
Ähnlich beschreibt er es auch in den Memoiren eines Neunzigjährigen.
Die hat er mit 19 geschrieben. Als ich Anfang 20 war, hatte ich eine ähnliche Idee: ich wollte hundert mögliche Varianten eines Lebens beschreiben, habe es aber verschoben, weil ich mich noch nicht alt genug für so ein Projekt gehalten habe. Vor ein paar Jahren hat Paul Auster mit 4 3 2 1 das gleiche Konstrukt erzählt – ein und dasselbe Leben in vier möglichen Verläufen.
Du hattest damals auch die Idee zu einem Filmarchiv.
Ich habe mir 1988 mit meinem allerersten Geld, das ich verdient habe, einen Videorekorder gekauft und systematisch Dokumentarfilme aufgenommen.
Das war zur Zeit unseres Interviews mit Koeppen!
Ja, aber ich habe es niemandem erzählt. Es gab so eine Haltung, dass Filme im Fernsehen schlecht sind, weil echter Film nur im Kino stattfindet und Fernsehen das Kino kaputt macht.
Später hast Du selber Fernsehfilme gedreht.
Wenige. Als ich mich von der Vorstellung vieler Filmleute gelöst habe, dass Radio nur Film ohne Bilder ist, habe ich Radiofeatures gemacht. Da musste ich den Koch von Napoleon nicht in ein Kostüm stecken, das nur lächerlich aussieht. Die Stimme, das habe ich beim Radio gelernt, ist ergreifend real.
Das wäre der Realismus, dem sich auch Koeppen verbunden gefühlt hätte?
Koeppen war ein so Großer, dass er alle Genres gesprengt hat! Erinnerst Du Dich an seinen Entwurf zu einem Roman über die deutsche Teilung?
Nein.
Ein westdeutscher Idealist, ein Träumer, sollte sich darin einem Ostdeutschen zum Austausch in den Westen anbieten. Gewissermaßen als Pfand, dass der Ostdeutsche danach in die DDR zurückkehrt. Der Ostdeutsche sollte einen Monat in den Westen dürfen, nur zum Anschauen, und dann wieder zurück in die DDR, aber trotz Medienrummel und strengster Bewachung gelingt es ihm zu fliehen. Die Blamage für beide deutsche Staaten ist perfekt. Während der Fokus in der ersten Hälfte des Romans auf dem Ostdeutschen liegt, der eine radikale Freiheit auslebt, verlagert sich die Aufmerksamkeit in der zweiten Hälfte auf den Westdeutschen, der einen extrem hohen Preis für seinen Idealismus zahlt – er wird in der DDR eingesperrt. Das Typische an Koeppen dabei ist, dass die DDR den Westdeutschen eigentlich gar nicht einsperren will, aber muss, um ihr Gesicht zu wahren.
Wie ging’s aus?
Das hat er uns nicht gesagt. Vielleicht wusste er es selber noch nicht. Zwei Jahre später ist die Mauer gefallen.
Was für einen Stoff ihm das geliefert hätte!
Ja! Wie Faßbinder. Der ist auch kurz davor gestorben.
Ich glaube, das wird jetzt sehr allgemein … wen würdest Du heute fotografieren?
Keine Stars! Gerade ist mir ein Film für Arte über das Pop-Festival in Sanremo geplatzt, weil Superstars wie Adriano Celentano, Gianna Nannini und Zucchero keine Interviews geben wollten. Sie leben von ihrem Publikum, aber sie verachten es.
Oh je!
Ich glaube, wir trinken jetzt lieber noch was … darauf, dass Deine Kinder heute so alt sind wie Du auf den Fotos warst!
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