Ankunft in Rom

Ich bin im April 1986 mit einer Seemannskiste am Hauptbahnhof von Rom angekommen, um für immer dort zu bleiben. Alle meine Sachen in München hatte ich verkauft, nun wollte ich Filme machen. Ich war 23 und erinnerte mich an Fellini, von dem ich gehört hatte, dass auch er nach dem Krieg unter ähnlichen Umständen am Hauptbahnhof in Rom angekommen war. Als Visitenkarte hatte ich zwei belichtete Filmrollen in der Tasche.

Bei einer fast Gleichaltrigen, die irgendwas mit Fernsehen zu tun hatte, aber leicht zu erkennen ihr Geld als Nutte verdiente, kam ich die erste Zeit in einem der sieben Zimmer unter, die sie an arme Teufel aus aller Herren Länder vermietete. Ein Holländer, der offensichtlich einen Nachmieter beibringen musste bevor die Padrona ihn gehen ließ, hatte mir die Adresse vermittelt. Per Handschlag in einer Bar nahm ich das Zimmer nach einem Blick auf den Stadtplan. Danach habe ich Ivo nie mehr gesehen.

In der Wohnung bemühte sich ein vor der Blutrache in seiner Heimat geflohener Syrer vergeblich um ein paar Stunden Nachtruhe, weil ein religiöser Fanatiker im Nachbarzimmer nachts seine Predigten einstudierte. Das war 15 Jahre vor dem Anschlag auf das World Trade Center und ich erinnere mich, damals war noch kein Hass, nur Inbrunst in seiner pathetischen Stimme. Gegenüber im langen Flur der Wohnung war ein junges Paar aus der Basilicata untergekommen, ebenfalls geflohen, um ihr Glück in der Anonymität der Großstadt zu suchen und dem langen Arm der eigenen Familien zu entkommen, die gegen die Beziehung waren.

Ein ganz normaler Medizinstudent lebte von allen noch in den besten Verhältnissen. Außer mir vielleicht, aber ich hatte eigentlich gar kein eigenes Zimmer, sondern wohnte im Kleiderschrank der Vermieterin, zu dem sie ein komplettes Zimmer umgewandelt hatte. Vor meinem Bett stand ein riesiger Garderobenständer und über meinem Bett ging eine Kleiderstange von einer Seite des Raums bis zur anderen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte Fausta auftauchen und nach irgendeinem Kleiderteil suchen, während die Freier im Flur auf sie warteten. Morgens teilten wir uns ein Bad zu siebt, dazu sie und die Besucher.

Ein paar Wochen nach meiner Ankunft geschah das Reaktorunglück von Tschernobyl. Ich konnte noch nicht gut italienisch, aber am Morgen danach habe ich im Bus das riesig geschriebene Wort nucleare in den Zeitungen erkannt. Zuerst dachte ich an Krieg, dann kam die radioaktive Wolke auch über  Italien.

Ich war frisch verliebt in eine Römerin, die ich zwei Wochen nach meiner Ankunft kennengelernt hatte. Wir liefen kilometerlang über den menschenleeren Strand, weil es uns egal war, wie radioaktiv die Sonne und wie verseucht der Sand war. Manchmal gingen wir nur aus dem Haus, um schnell einen Kaffee in der Bar zu trinken und kamen erst nach drei, vier Tagen wieder.

Meinen Eltern schrieb ich nach Hause, dass ich an der Filmhochschule aufgenommen sei und verbrachte die Zeit mit Laura auf den Straßen und Plätzen in der Ewigkeit, im Auto ihres Mannes, unter freiem Himmel, bei Freunden und Fremden, in den tausend Winkeln der Stadt oder irgendwo auf dem Land, in zeitlosen Ruinen genauso wie im Berufsverkehr. Wir hatten kein Ziel und kein Gefühl mehr für die Zeit. Ihre Tochter, die damals elf war, gab uns wenigstens Sonnencreme mit und sagte „Mama … ich mach’ mir Sorgen!“.